Wenn es bisher nur drahtlose Datenübertragung gegeben hätte und heute würde jemand das Datenkabel erfinden es würde als ein gewaltiger Fortschritt gepriesen! Diese Aussage fiel in der Podiumsdiskussion zum Thema Wieviel Funk braucht die Prozessindustrie?, die gemeinsam von ZVEI, NAMUR und ARC Advisory Group auf der Achema 2009 veranstaltet und von Dr. Volker Oestreich, Chefredakteur der drives & motion, moderiert wurde. Weitgehend einig waren sich die Diskussionsteilnehmer darin, dass es kein entweder oder zwischen drahtgebundener und drahtloser Kommunikation geben wird, sondern ein nebeneinander. Über die zukünftige Verteilung dieser beiden Technologien war man jedoch durchaus unterschiedlicher Meinung. Im Jahr 2020 werden 80% aller Feldgeräte drahtlos kommunizieren wagte Dr. Andreas Rampe, Product Manager Wireless Solutions bei Endress+Hauser in Reinach, eine provozierende Prognose und konnte dabei auf eine Vielzahl von Messgeräten verweisen, die seine Firma auf der Achema vorstellte. Heute gibt es nach Meinung von Dr. Rampe noch immer zu viele Messstellen, die manuell abgelesen werden müssen. Dadurch werden Überwachungsaufgaben häufig vernachlässigt. Mit Wireless eröffnen sich hier vollkommen neue Möglichkeiten.
Auch Frank Hakemeyer, Manager Development Wireless and Monitoring bei Phoenix Contact Electronics in Bad Pyrmont, sieht eine rosige Zukunft für Wireless. Die Funktechnik hat sich seiner Meinung nach in der Industrie bereits bewährt. Dennoch müssen Hersteller und Kunden die Eigenarten der Technik erkennen und richtig damit umgehen. Ähnlich wie im Falle der LWL-Technologie ein besonderes Verständnis beispielsweise über das Verlegen von Kabeln und polieren von Faserenden notwendig war, verlangen die funkspezifischen Parameter wie z.B. Reichweitendefinitionen oder Koexistenzmanagement das Durchschreiten einer Lernkurve Wireless. Danach wird sich die Funktechnik als drittes Medium im Bunde von Kupfer und LWL etabliert haben und Anwender profitieren ganz einfach von den technischen Vorzügen einer Funkübertragung.
Unter den vielen bereits existierenden Funklösungen etabliert sich wohl WirelessHART als der Quasistandard für die Prozessautomation. Eine wichtige Begründung hierfür nennt Jean-Luc Griessmann von der HART Communication Foundation Europe in Basel: „Die Chancen für WirelessHART, sich in der Prozessautomatisierung als Funkstandard zu etablieren, stehen gut, nicht zuletzt wegen der Kompatibilität zu der bedeutenden installierten Basis an HART Geräten weltweit.“
Deutlich kritischer beurteilt Wolfgang Feucht, Geschäftsführer der Knick Elektronische Messgeräte in Berlin das Thema: „WirelessHART funkt parallel zu bereits liegenden Kabeln. Ein Schildbürgerstreich? Wann droht der Koexistenz-Kollaps im 2,4 GHz-Band?“ Engagiert vertritt Wolfgang Feucht in der Diskussion die Meinung, dass im Fall von WirelessHART mit raffiniertem Marketing das knappe 2,4 GHz-Band „zugemüllt“ wird und nicht mehr für notwendige Funkanwendungen zur Verfügung steht. Skeptisch steht Wolfgang Feucht auch der Störfestigkeit der drahtlosen Kommunikation gegenüber: mit einem einfachen Störsender lässt sich seiner Meinung nach die funkbasierte Kommunikation einer Anlage auch vom Außenzaun her problemlos stilllegen.
Dr. Lutz Rauchhaupt, Leiter „Drahtlose industrielle Kommunikation“ am Institut für Automation und Kommunikation (ifak) in Magdeburg und Obmann des Fachausschusses 5.21 „Funkgestützte Kommunikation“ im VDI/VDE-GMA weist darauf hin, dass die Koexistenz von Funksystemen in der Automatisierungstechnik beherrschbar ist, wenn die richtigen Maßnahmen von Anfang an getroffen werden. Sobald mehrere Funksysteme gleicher oder verschiedener Art eingesetzt werden, besteht die Möglichkeit einer gegenseitigen Beeinflussung, die aber nur dann auftreten kann, wenn mehrere Systeme am gleichen Ort, zur gleichen Zeit und auf der gleichen Frequenz funken. Koexistenz ist durch Entkopplung in mindestens einem der Bereiche Ort, Frequenz oder Zeit möglich. Mit einem guten Koexistenzmanagement lassen sich, so Dr. Rauchhaupt, Funkbeeinflussungen in industriellen Anwendungen weitgehend vermeiden: „Das Engineering von WirelessHART-Anwendungen stellt eine besondere Herausforderung dar! In erster Linie soll sich die Kommunikationsinfrastruktur nach der automatisierungstechnischen Anwendung richten. Man wird aber darauf achten müssen, dass einzelnen Knoten nicht zu „Hot-Spots“ werden mit erhöhtem Energiebedarf und erhöhter Frequenznutzung in ihrem Umfeld. So kommt dem Netzwerkmanagement, dem Schedulen von Nachrichten, dem Planen von Verbindungen und der Positionierung von Knoten eine nicht unerhebliche Bedeutung zu.“
Und wie stellen sich die Anwender dem Thema? Mit Martin Schwibach, Senior Automation Manager Produktionsnahe Kommunikationstechnik bei der BASF in Ludwigshafen und Obmann des Arbeitskreises 4.15 – Wireless Automation der NAMUR, stand der profunde Vertreter der Anwender Rede und Antwort und geißelte Marketingaktivitäten für Wireless zu Lasten des Anwendernutzens: „Unnütze Streitigkeiten um Standards und Normen stellen die Innovationskraft von Wireless Technologien in Frage. Wir Anwender wollen vielmehr den Wettbewerb um innovative Anwendungen und Ideen mit Zusatznutzen.“ Schwibach fordert eine klare Aufgabentrennung, wobei er die Verantwortung des Betreibers für das Koexistenzmanagement betont, jedoch nicht die grundlegenden Aufgaben der Hersteller übernehmen will: „Warum wird der Kunde dazu gezwungen, Entwicklungsarbeit der Hersteller zu leisten? Oder spezifizieren Sie als Autofahrer die Übertragungscharakteristiken des CAN Busses in Ihrem Auto?“ Hersteller und Standardisierungsgremien sollen seiner Meinung nach die Kunden- und Anwendungsorientierung in den Vordergrund stellen und nicht Schlachten über Übertragungstechnologien austragen, die in der Anwendung ohnehin transparent sein sollen. Wie kooperativ die NAMUR beim Thema Wireless ist, zeigt nicht nur die unter Schwibachs Führung erstellte NAMUR Empfehlung NE 124 „Anforderungen an Wireless Automation“, sonder auch der Multivendor-Feldversuch mit WirelessHART konformen Geräten, der zur Zeit am BASF Standort Ludwigshafen stattfindet.
Ein Fazit der Podiumsdiskussion auf der ACHEMA 2009: das Kabel bleibt auf absehbar lange Zeit das bevorzugte Medium für die Datenkommunikation, aber viele Vorbehalte gegenüber der Funkübertragung sind abgebaut: Wireless kommt dort zum Einsatz, wo sich direkter Kundennutzen aus der Anwendung ergibt.
Dass die Hersteller auf Wireless setzen, war auf der ACHEMA vielerorts zu sehen. So geht ABB zukünftig von einem breiten Einsatz drahtloser Sensoren und Aktoren aus. Begonnen wird mit Wireless nach Meinung von Dr.-Ing. Guntram Scheible, Produktmanager drahtlose Automatisierung bei ABB Stotz-Kontakt in Heidelberg natürlicherweise dort, wo der Vorteil besonders offensichtlich ist, also wo eine Verkabelung zu fehleranfällig, zu aufwändig oder gar nicht möglich ist: „Zuverlässigkeit ist „die“ Schlüsselanforderung bei Wireless. Deshalb ist es wichtig hier auf spezielle, dafür entwickelte industrielle Standards wie WISA für die Fabrikautomation zu setzen. In praktischen Applikationen, wo Kabelausfälle z. B. durch Bewegungen zu Stillständen führen, kann Wireless die Anlagenverfügbarkeit deutlich steigern.“
Auch Dr. Klaus Kluger, Director Instruments Division Germany der Emerson Process Management in Haan betont, dass die sich selbst organisierenden Wireless Netzwerke den Betreibern neue und zusätzliche Möglichkeiten bieten, ihre Anlagen zu optimieren: „Wireless Netzwerke zeichnen sich dabei durch einfache Installation sowie zuverlässige, sichere und bedienerfreundliche Handhabung aus. Der WirelessHART Standard, zu dem sich alle führenden Hersteller der Prozessautomatisierung bekannt haben, garantiert darüber hinaus Investitions- und Zukunftssicherheit sowie Interoperabilität der eingesetzten Feldgeräte über Herstellergrenzen hinweg.“
Drahtlose Kommunikation vom Feld in die Welt: Kurt Polzer, Produktmanager WirelessHART Produkte bei Siemens in Karlsruhe, sieht mit WirelessHART jetzt die letzte Lücke zur drahtlosen Vernetzung von Prozesssensorik geschlossen. Ein wichtiger Aspekt für ihn ist die Nutzbarkeit von Wireless im Ex-Bereich. Polzer ist optimistisch: „Der Anteil von Wireless wird sich aufgrund höherer Flexibilität, geringerer Investitions- und Betriebskosten sowie mit zunehmender Erfahrung beim Umgang mit der neuen Technik vergrößern.“
Es wird also zukünftig einiges Los sein im 2,4 GHz Frequenzband – mit ausreichender Erfahrung und gutem Koexistenzmanagement hoffentlich auch problemlos. Wichtige Hinweise hierzu gibt die Broschüre „Koexistenz von Funksystemen in der Automatisierungstechnik“, die beim ZVEI (www.zvei.org) kostenlos zum Download verfügbar ist.